A Summer's Tale in Luhmühlen | 04.-08.08.2015

Zwischen Wald, Wiese und Weide entsteht ein Märchenland … wer sich jemals ein Festival erträumt hat, das wirklich alles anders macht, muss sich nach der Premiere des Summer’s Tale verwundert am Öhrchen kratzen.

A Summer's Tale 2015, Foto: Oliver Uschmann

Hauptbühnenholzbuchstaben

Kurz vor der Jahrtausendwende, auf einem „normalen“ Festival. Ich liege im Igluzelt und träume. Noch vor einer Stunde haben volltrunkene Besucher ihre leichtesten Kumpel vor unserem Lager in die Höhe gestemmt und in unsere Zelte geworfen. Ein Geschrei wie beim Kampf gegen Ork-Armeen, Schattenrisse im Gegenlicht der Masten, Fontänen aus Erbrochenem wie Starkregen. Dazu bis fünf Uhr morgens der ratternde Generator des Nachbarlagers, die Migräne-Maschine zu 200 Dezibel Metallica aus der Konserve. Damals, wie gesagt, träumte ich. Träumte von einem Festival, auf dem alles anders ist. Träumte von Frieden und Freundschaft und einer Landschaft wie im Auenland, lange vor den Schlachten mit den Orks.
Träume dieser Art, die jeder einmal hatte, egal wie hartgesotten er ist, müssen sich in den letzten fünfzehn Jahren potenziert haben. Viele, die damals selbst ihre Freunde in die Zeltstädte warfen, sind heute erwachsen und haben womöglich schon Kinder. Viele, die sich auch heute durchaus noch gerne mal für eine Stunde in den Moshpit schmeißen, brauchen keinen Dauersuff mehr, keine Generatoren, kein Geholze rund um die Uhr. Ihre Träume sind nun wahr geworden, denn mit dem neuen Festival A Summer’s Tale öffnete 2015 das erste Mal ein wahres Auenland in der Lüneburger Heide seine Pforten. Da spielen Kinder wie Erwachsene unter Birken Riesen-Jenga und schaukeln in Hängematten, während die Augustines die Verstärker anwärmen. Auf dem „Luhedeck“ machen die Menschen Yoga oder lernen die Weinfeinschmeckerei in nur 90 Minuten. An den organisch verteilten Tischen, Kästen, Bänken und Sitzfässern trinkt man ChariTea, Lemonaid oder Bier einer erst 2011 gegründeten Lokalbrauerei. Im Café halten abenteuerlustige Weltreisende oder diskussionswürdige Investigativjournalisten Vorträge über das „Couchsurfen im Iran“ oder die „GPS-Jagd“ nach unserem illegal exportierten Elektroschrott. Installationen wie die „251 Zugvögel“ oder „18QM Glow“ machen aus dem Gelände eine Freiluftausstellung. Wird es dunkel, leuchten bunte Stäbe in den Bäumen.
A Summer's Tale 2015, Foto: Oliver Uschmann

Wegweiser

Den Pfad zu Sphärenrock, Soundcollage und Süßkartoffelpommes weisen individuell gestaltete Wegweiser. Auch, wenn auf den drei Konzertbühnen dieses Augustwochenendes kein einziger aggressiver Powerchord ertönt, ist das neue Sommermärchen unter den Festivals mehr Punk als jede Knüppelkirmes, die allenfalls ein paar Alibi-Stände von Sea Shepherd oder Peta2 aufstellt. Der Hauptattraktion Patti Smith gelingt es am Freitagabend tatsächlich, den alten Geist der Rebellion wieder so aufleben zu lassen, dass man als Nachfahre der 68er eine Gänsehaut bekommt. Zunächst spielt sie ihr kanonisches Album „Horses“ zum 40-jährigen Jubiläum der Platte vollständig durch, dann haut sie eigene und fremde Klassiker der Rockgeschichte in die Menge und ruft: „Diese Welt gehört nicht den Regierungen, nicht den Konzernen und nicht dem verfickten Militär. Sie gehört euch!“ Als wäre Woodstock gestern gewesen. Belle & Sebastian begeistern im Kontrast dazu mit erhebendem Humor und einer grandiosen Collage nostalgischer Videospiele auf der Leinwand. Tori Amos covert „Smells Like Teen Spirit“ auf eine Weise, dass nach der 68er-Zeit auch die Grunge-Epoche in all ihrem Charisma wieder auflebt, nur mit Hilfe eines Klaviers und einer grandiosen stimmlichen Interpretation.
A Summer's Tale 2015, Foto: Oliver Uschmann

Grüner Salon

Nun ist es auf jedem Festival, wenn man ehrlich ist, so: Man sieht nicht das, was man zu sehen plant, sondern was sich aus der spontanen Tagesgestaltung heraus ergibt. Und nirgends, wirklich nirgends, konnte man bislang dermaßen improvisiert durch den Tag stolpern und dabei so viel Schönes erleben. Da sitzt man mit einem Mal vor der Waldbühne unter einem dichten Blätterdach und verfolgt einen Poetry Slam, dessen Moderator den eigentlichen Wettbewerbern den Gefallen tut, zu Beginn einen eigenen Text vorzutragen, der dermaßen himmelschreeiend miserabel ist, dass er Satire sein könnte … bevor dann echte Könner wie Hinnerk Köhn oder die grandiose Annika Blanke wirkliche Wortkunst vortragen. Die regulären Lesungen wiederum finden auf einer Bühne neben einem Teich und einer Mühle statt. Menschen liegen auf der Wiese vor einem liebevoll gestalteten Wohnzimmer, Libellen schwirren über das Wasser. Kein Geheimnis, dass ich als Autor dieses Textes selbst dort vortragen durfte – diese Kulisse gehörte zu den schönsten, die ich je bespielt habe. Und während selbst bei artverwandten Alternativ-Festivals wie etwa Burg Herzberg hin und wieder eine Psychedelic-Rock-Session die Wortbühne zersägt, sind beim Summer’s Tale grundsätzlich sämtliche Künstler hintereinander dran. Nahezu niemals überschneiden sich die Bühnen, ganz als wolle man sagen: Wir müssen hier nicht so viel Stoff wie möglich durch die Boxen pressen. Wir haben Zeit.
A Summer's Tale 2015, Foto: Oliver Uschmann

Putzige Zaunbanner

August 2015, ein Vormittag auf dem Summer’s Tale, meinem wahr gewordenen Traum. Ich stehe am Waschtrog und putze meine Zähne. Die Nacht war ruhiger als sogar im eigenen Heimatdorf. Abends hört man Wipfelrauschen und Zikadenzirpen, morgens Kindervergnügen und vereinzeltes Gelächter wie in einem angenehm mittelvoll besuchten Freibad. Volltrunken ist hier niemand und das einzige, was im Schädel dröhnt, ist das ferne Gesumm der Lichtgeneratoren und die heutzutage sogar von Singer-/Songwritern wie Damien Rice oder Soundtüftlern wie Yann Thiersen gern eingesetzte „Rat“, jenes Effektgerät, das aus jedem Bass und jeder Gitarre ein dröhnendes Donnerwetter macht. Besonders Mister Rice verliert sich am zweiten Abend zum Finale seines Auftritts in einem orgiastischen, sich Stück für Stück steigerndem Loop des Leidens, den man je nach Nähe oder Ferne zur Bühne wie zu seiner Person als herausragend intensiv oder unfassbar enervierend empfinden kann. Diesen Vormittag aber: Waschtrog, Kinder, Waldrauschen, Hobbits. Zwischen den Wohnmobilen und Vorzelten steht ein uralter Citröen, wie ihn Patrick Jane in „The Mentalist“ fährt. Jeder bleibt bewundernd davor stehen, in der einen Hand ein spritfreies Biobier, in der anderen eine Kamera. Auf dem Gelände selbst geben Profi-Nostalgiker Kurse im Fotografieren mit der Polaroid. In einem Restaurantzelt serviert man 3-Gänge-Menüs für 39 Euro, die jeden Cent wert sind. Kein Fast Food und keine einzige Coca Cola wechselt auf diesen Wiesen den Besitzer. Hauptgetränkesponsor ist Fritz. Das Plakat zur Veranstaltung sowie viele stilvolle Motive von Konzerten diverser Künstler erwirbt man im Atelier als limitierte Siebdrucke. Die weitere Vielfalt der Angebote in Sachen Musik, Kunst, Literatur, Workshops und herausragender Bio-Gastronomie macht es unmöglich, alle, die es verdient haben, in einem Text zu erwähnen, sie seien hiermit gegrüßt und wissen, dass sie gemeint sind. Die nach zwanzig Jahren und rund sechzig Festivals nicht mehr für möglich gehaltene Begeisterung tut man der Verwandtschaft und Freunden daheim mittels echter Postkarten kund. Ich träume nicht mehr nur von Frieden und Freundschaft und einer Landschaft wie im Auenland, denn sie ist Wirklichkeit geworden. Wenn man bedenkt, dass sich selbst manche winzigen, in Hippie-Tradition stehenden Festivals des Nordens bis heute nicht mal eine Lesebühne trauen aus Angst, sie könne sich „nicht lohnen“, geht der Veranstalter FKP Scorpio – bekannt für die Giganten Hurricane und Southside –mit dieser vollkommen neuartigen Alternative zum üblichen Betrieb sicherlich ein finanzielles Wagnis ein. Dafür setzten die marktmächtigen Hamburger aber tatsächlich etwas auf die Lünebürger Wiese, was Festivals ursprünglich bei aller legitimen Gewinnorientierung immer auch sein wollten – eine erbauliche Utopie mit maximalem Miteinander. Hoffen wir, dass sie eine neue, lange Geschichte eröffnet.