Lagwagon – Hang (Review)

Das Kernstück des achten Albums von Lagwagon „Hang“ dauert 6 Minuten und 11 Sekunden und beinhaltet alles. Wirklich alles. Spielfreude, Zorn, Energie, Verbitterung, Traurigkeit, Leben. Drumherum: Ein Meisterwerk.

Über zwei Minuten dauert es, bis „Obsolote Absolute“ mit dem klassischen Hochgeschwindigkeitsgetrappel einsetzt, das früher Standardformat der Band war. Die Konvention setzt also erst zu einem Zeitpunkt ein, an dem damals ein Song bereits fertig war. Das spricht Bände. Ebenso das tatsächliche Sprechen innerhalb der Nummer. Kratzig teilt uns eine Stimme mit, was in modernen Medienzeiten alles „obsolet“ geworden ist. Freundschaften. Gespräche. Im Grunde alles. Der Workaholic Joey Cape, der als Solokünstler, Label-Gründer und Betreiber guter Zweit- und Drittbands praktisch ständig schreibt, hat seit den unschuldigen Zeiten des Debüts vor 22 (!) Jahren einige schmerzhafte Verluste erlitten. Sein bester Freund Tony Sly von No Use For A Name starb vor zwei Jahren. Das letzte Album „Resolve“ von 2005 war eine Konzeptplatte zur Verarbeitung des Selbstmords des ehemaligen Lagwagon-Drummers Derrick Plourde.
Neun Jahre Zeit zwischen zwei Alben: Das klingt nicht nach Routine. Das klingt nach Reife im Sinne von Reifen wie ein guter Whiskey. Und in der Tat: „Hang“ ist eine Wucht, auch in wörtlicher Hinsicht. Es gibt Songteile auf diesem Album, die fräsen sich rifflastig voran, als hätte man aus Versehen Karma To Burn aufgelegt. Die Gitarren schreddern nicht wie ein Skateboard, das den Rand eines leeren Pools in Los Angeles entlang grindet, sondern erinnern eher an eine wahrhaftige Wall of Sound, gespielt mit den Mitteln des Melodycore. „Hang“ beinhaltet alles, was diesen Stil jemals wertvoll gemacht hat. Ein Schlagzeug wie von der Tarantel gestochen, Bassseiten, die schwingen wie Brückenseile und ein Sänger, in dessen Stimme jene Mischung aus Schwermut und Lebensfreude, Melancholie und Humor, Trauer und trotziger Dynamik liegt, die einen abwechselnd dazu bringen möchte, mit dem Fahrrad über eine Rampe in den See zu springen und mit den Fäusten Löcher in sämtliche vorhandenen Kulissen zu schlagen, da diese Musik die eigenen Enttäuschungen, die man erlebt hat, wie keine zweite aufsaugt und zugleich wiedergibt.
„One More Song“ ist eine Hommage an Tony Sly und knüpft seine Hookline an dessen Stück „LIVR Let Die“ an. Das Album insgesamt sei laut Cape das erste, von dem alle Mitglieder dermaßen überzeugt sind, dass sie jeden Song davon im Live-Programm spielen wollen. Und ich – in diesem Magazin dem Zwang entledigt, zugunsten der Illusion von Sachlichkeit meine tiefe Verbundenheit mit diesem Genre nicht voll entfalten zu können, sage: „Hang“ ist ein Lebensretter für jeden, dem dieser Musikstil etwas bedeutet … und in seiner Spielfreude, lyrischen Potenz und emotionalen Intensität das beste Album, das die Kalifornier je geschrieben haben.