"Erdrotation" – Die Kassierer präsentieren vorab ihren ESC-Song

Aller Nichtnominierung zum Trotz werden die Kassierer  parallel zum deutschen Vorentscheid für den European Song Contest 2016 ihren eigenen ESC-Hit „Erdrotation“ veröffentlichen. Sebastian Bartoschek traf sich vorab mit Sänger Wölfi. Hier könnt Ihr in „Erdrotation“ reinhören.
Am 25. Februar gibt es den deutschen Vorentscheid zum Eurovision Song Contest (ESC) in Stockholm. 10 Künstler sind dann auf Einladung des Norddeutschen Rundfunks (NDR) am Start – nicht dabei ist die Wattenscheider Wampenkombo „Die Kassierer“, für die über 30.000 Unterstützer ihre Stimme abgeben haben. Sänger Wolfgang ‚Wölfi‘ Wendland, präsentierte nun der Presse eine Vorabversion des möglichen ESC-Hits „Erdrotation“ und hofft auf den Verstand: „Wenn der NDR vernünftig wird, nimmt er keinen der zehn aus dem Vorentscheid mit, sondern uns.“ Ein Treffen mit Deutschlands verbliebender Grandprix-Hoffnung.
Ein Piano klimpert zum Einstieg. Dann eine Textelegie über Trauer, Luft, eine Perlenkette – und, eben, Erdrotation. Es erklingt der Refrain: „Erdrotation. Wer merkt das schon?“ Das ist tief, der Zuhörer wird in ein Crescendo eines Schlagers im allerbesten Sinne eingeführt. Die zweite Strophe startet direkt mit den sybillischen Worten: „Das Ende wird ein Anfang sein.“ Ist das noch Musik? Ist das vertonte Gesellschaftskritik?
Wendland grinst mich an. Wir sitzen in einem verrauchten Raum im Stil eines Intellektuellensalons der späten 1920er Jahre. Der Zigarettennebel ist zum Schneiden dick. Das Lied der Kassierer für Stockholm leiert aus einem mit Computerboxen verstärkten mp3-Player in Dauerschleife wie von einem ewig stolzen, aber gequälten Grammophon. Ein jedes Gefühl von Zeit geht verloren, auch wenn Wendland erklärt, dass der Song unter drei Minuten lang sei („Vielleicht 2:59 Minuten“), weil das die Regularien des ESC so vorsähen. Wir schweigen beide. Ein sakraler Moment. Wir lauschen wieder dem Lied, das parallel zum NDR-Vorentscheid am 25.2. releast wird. Es kostet 1,29 €. Quersumme 12 – wie die Anzahl der Apostel Jesu, denke ich noch, dann setzt das Schlagzeug ein. Eine E-Gitarre. Mehrere Gesangsspuren. Ein asynchrones Fade-Out von Musik- und Gesangselementen. Wogen von Freude, Verunsicherung und Eurovisionen kommen über den Zuhörer.

Die Kassierer – Erdrotation


Doch das soll nicht alles sein, verspricht Wendland, während sich der Danse Macabre, einem Meyrinkschen Roman gleich, einer neuen Erdrotationsrunde zuwendet. „Es kommt dann auch ein Musikvideo raus. Wenn alles klappt, wird es Anspielungen zu Doktor Murkes gesammeltes Schweigen haben.“ Böll, 1955. Wer kennt dieses Werk nicht? Das Thema ist die intellektuelle Kontinuität zwischen NS-Ideologie und der Kultur der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik. Der Wattenscheider Kombo ist tatsächlich kein Thema zu heikel. Tagelang, so Wendland, habe er über den Song siniert, meditiert und komponiert. In einem Bewußtseinsstrom von 30 Minuten sei schließlich alles zu Papier gebracht worden.
Nichts an diesem Werk ist Zufall. Wendland: „Ich kann dir auch das Geheimnis des Covers verraten.“ „Ja?“ „Auf dem Cover sind drei Erdteile mit so komischen Abmessungen. In Wirklichkeit sind das Wattenscheid, Gerthe und Humme (Anm d. Red.: wahrscheinlich eher Hamme…oder Grumme).“ Der innere Kosmos der Kassierer wird so gleichsam zum äußeren Kosmos des Hörers gemacht. Das hermetische Gesetz in Vollendung. Vielleicht traut sich der NDR deswegen nicht die Kassierer in den Wettbewerb aufzunehmen. Würden sie nicht den Zuschauer und die Mitkandidaten gleichermaßen intellektuell entzaubern? Wendland glaubt etwas anderes: „Seit Ende der 1950er kann der NDR keine Unterhaltung mehr. Und für Intellektuelles ist eh der Hessische Rundfunk zuständig.“
Und trotzdem bleibt da dieses Lächeln in Wendlands Gesicht, das durch die Zigarettennebel zu mir dringt. Ein Lächeln, dass die Möglichkeit eines Versprechens ist: dieses Jahr in Stockholm! Vielleicht ist der Titel des ESC-Songs auch in dieser Weise als Allegorie zu verstehen? Denn so wie die Erdrotation unmerklich und doch konstant unseren Weg durch das Universum determiniert, so kann auch der NDR wohl auf Dauer kaum am ewig Gestrigen festhalten.

(Von Sebastian Bartoschek)